(15.12.2016)

Deportation des Meinerzhageners Herbert Stern heute vor 75 Jahren

Von Rolf Janßen (nach Recherchen der Stadtarchive Meinerzhagen, Wuppertal und Hannover und des Geschichtskontors Münster)

Heute vor 75 Jahren wurde der erste Meinerzhagener, der während der Zeit des Nationalsozialismus in Meinerzhagen wohnte, deportiert und zwar in das seit dem 1. Juli 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzte Riga, der heutigen Hauptstadt Lettlands. Doch von vorne:

Herbert Stern wurde am 08.03.1919 als jüngster Sohn von Emil und Paula Stern, geb. Emanuel, in Meinerzhagen geboren. Sein älterer Bruder, Jahrgang 1916, war Hans Stern. Die Familie wohnte in der Hauptstraße 32, heute Friseur Intercoiffure Mondial. Früher befand sich hier die Deutsche Bank.

Herbert Stern war ein leistungsstarker Schüler, der nach den ersten vier Volksschuljahren die Selekta in Meinerzhagen besuchte, eine Vorläuferin der Realschule. Ein heute noch lebender Mitschüler, Jahrgang 1921, schreibt: „An Herbert Stern denke ich gern. Er war ein vitaler, sympathischer Schüler.“

Alfred Mürmann schreibt in seinen Jugenderinnerungen eines Achtzigjährigen mit dem Titel „Der Lausbub aus dem Wiesengrund“: „Als am 15.9. (=1935) die sogenannten Nürnberger Gesetze (=Rassegesetze) von der Regierung erlassen wurden, fühlten sich die einen nicht mehr wohl in ihrer Haut, andere überfiel eine Angst, was daraus wohl werden sollte. Es gab wochenlang daheim und auf den Straßen große Debatten.

Ich mußte an meine Klasse der Selekta denken. Im linken Block saßen in der Bank vor mir Emil Jeske und Gustav Abel aus Valbert. Links neben mir saß Herbert Stern, Sohn des Viehhändlers Stern (=Emil). Herbert, der Jude war, mit rundem Kopf und etwas kleiner als ich, war ein exzellenter Fußballspieler und besaß die richtigen Beine eines Dribbelkünstlers. Er war ein sehr guter Schüler und immer kollegial. Wie würden die Judengesetze wohl in die Tat umgesetzt werden? Es wäre eine Schande, und ich wäre traurig, wenn Herbert etwas geschehen sollte. Er hatte nach der Schulentlassung eine Lehre an einer Bank in Hagen angetreten.“ Soweit Alfred Mürmann.

Herbert Stern war von Beruf Bankkaufmann. Auf seiner Meldekarte der Amtsverwaltung Meinerzhagen steht Kellnerlehrling.

 

 Familie Emil Stern (Szenenfoto aus dem Film "Das Medallion", Margot Fischbach-Bilinsky)

 

Drei Wochen vor der Reichsprogromnacht am 18.10.1938 verzog Herbert Stern, inzwischen mit dem Zusatzvornamen „Israel“, nach Wuppertal-Elberfeld in die Bembergstraße 4. Er wich offensichtlich damit dem Verfolgungsdruck in Meinerzhagen aus. Dazu, wie man sich diesen Verfolgungsdruck vorzustellen hat, soll ein anderer gleichaltriger Meinerzhagener, Kurt Stern, Jahrgang 1920, Kirchstraße 5, zu Wort kommen: „Ich kam mit dem Zug an und ging die Bahnhofstraße runter nach Hause. Da sah ich zwei frühere Klassenkameraden. Hinter meinem Rücken hörte ich einen sagen: ,Ich dachte doch, der dreckige Jude ist längst ausgewandert’. Dann hat man mit Steinen nach mir geworfen. Und am Abend marschierte die Hitlerjugend an unserem Haus vorbei. Ehemalige Klassenkameraden von mir waren auch dabei. Die sangen ihre Lieder. Eine Zeile vergesse ich nie. Die geht so: ,Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, da geht’s noch mal so gut….’ Und das in einem Ort, wo jeder jeden kannte. Nach zwei Tagen bin ich aus Meinerzhagen weg. Für immer.“ Kurt Stern floh im Mai 1939 nach Shanghai und überlebte dort den Holocaust.

Alfred Mürmann berichtet in seinem o.g. Buch über die Ereignisse in der Reichspogromnacht am 9./10.11.1938: „Was da ablief, waren echte Pogrome, die später unter der Bezeichnung ,Reichs-Kristallnacht’ in die Geschichte eingingen. In Meinerzhagen wurden auch einige Juden und jüdische Geschäfte damit konfrontiert. Mich interessierte akut mein Schulfreund Herbert Stern, der in der Selekta neben mir gesessen hatte. Etwa zwei Wochen später, als ich mit dem Zug aus Hagen zurückkam, entdeckte ich Herbert in einem Seitenabteil, als ich zur Toilette ging. Ich setzte mich neben ihn und fragte, ob er auch Schwierigkeiten gehabt hätte. Er winkte ab und bat mich, ihn allein zu lassen, damit ich keinen Ärger bekäme. Er war in einer Hagener Bank beschäftigt. Unsere Unterhaltung dauerte etwa eine Viertelstunde. Keiner nahm Kenntnis von uns.“

Am 25.01.1940 zog Herbert Stern wieder zu seinen Eltern nach Meinerzhagen, Hauptstraße 32. Das Haus hatten diese inzwischen an einen Nachbarn verkauft, wohnten aber noch dort im Dachgeschoss. Spätestens zu diesem Zeitpunkt endete auch seine Tätigkeit in der Bank in Hagen.

Nach knapp einem Monat verzog Herbert Stern am 24.02.1940 nach Hannover. Auf der

Meldekarte der Amtsverwaltung Meinerzhagen ist als Wohnung Adolf-Hitler-Straße 7 angegeben. Dagegen ist sein Zuzug aus Meinerzhagen in der Einwohnermeldekartei der Stadt Hannover unter diesem Datum in die Herschelstraße 31 dokumentiert.

Das Wohnhaus Herschelstraße 31 war Privateigentum einer jüdischen Familie. Ab September 1941 bis Oktober 1943 wurde es als „Judenhaus“ missbraucht, für anfangs bis zu 150 Bewohner/Innen, die nach und nach in Lager deportiert wurden. Dies ist eine Parallele zur Geschichte des Hauses Kirchstraße 5 in Meinerzhagen.

Am 15.12.1941, heute vor 75 Jahren, wurden 1.001 jüdische Menschen von Hannover nach Riga deportiert, deren genaue Personendaten überliefert sind. Unter ihnen war auch Herbert Stern. Der Deportationszug war ein Personenzug und wurde von lokaler Schutzpolizei bis Riga begleitet. Es war der zehnte Deportationszug mit dem Ziel Riga und erreichte dieses am 18.12.1941. Die Deportierten wurden vom Bahnhof in Riga in das Rigaer Ghetto getrieben.

Das Rigaer Ghetto befand sich in der „Moskauer Vorstadt“. Als es im Oktober 1941 abgeriegelt wurde, mussten dort auf engstem Raum fast 30.000 jüdische Letten leben. Um Platz für deutsche Juden zu schaffen, wurden am Rigaer Blutsonntag, dem 30.11.1941, und am 8./9.12.1941 ca. 26.500 lettische Juden aus dem Ghetto getrieben und am Rand ausgehobener Gruben in den nahen Wäldern von Rumbula von SS- und Polizeiangehörigen und lettischen Hilfswilligen erschossen. So erging es auch dem ersten Deportationszug mit 1.053 Menschen aus Berlin, der am 30.11.1941 die Bahnstation Skirotava vor Riga erreichte. Alle Personen wurden noch am gleichen Tag im Wald von Rumbula erschossen.

Herbert Stern hatte zunächst Glück im Unglück, da er knapp drei Wochen nach den unglücklichen Menschen aus Berlin in Riga eintraf. Im Rigaer Ghetto wurden die Angekommenen, soweit sie arbeitsfähig waren, erst zum Schneeräumen und dann nach und nach bei zahlreichen Dienststellen und Betrieben in nahezu 200 Arbeitsstellen eingesetzt. Herbert Stern zählte mit seinen damals 22 Jahren zu den Arbeitsfähigen und überlebte so die Selektionen im Ghetto, denen als arbeitsunfähig angesehene Menschen zum Opfer fielen. Er lebte auch noch, als das Rigaer Ghetto aufgelöst wurde und die Insassen unter anderem in das im März 1943 errichtete Konzentrationslager Kaiserwald mit seinen Außenlagern verlegt wurden. Im Unterschied zu Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Sobibor oder Belzec war Kaiserwald kein Vernichtungslager. Hier ging es um Ausbeutung der Arbeitskraft, heute spricht man von Vernichtung durch Arbeit. Hier „bedienten“ sich deutsche Großfirmen, hauptsächlich die AEG.

Wegen des Vorrückens der Roten Armee begann man im September 1944 die Gefangenen ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig zu „evakuieren“. Hinter diesem Wort verbarg sich der Abtransport auf dem Seeweg oder die Ermordung. Ende September 1944 war das Lager von Häftlingen „leergeräumt“. Die Rote Armee befreite das KZ Kaiserwald am 13. Oktober 1944.

Dies erlebte Herbert Stern nicht mehr. Sein Todesdatum ist im Buch der Erinnerung, herausgegeben vom „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.“ und dem „Riga-Komitee der deutschen Städte“, sowie im Gedenkbuch des Bundesarchivs mit Juli 1944 angegeben. Er wurde 25 Jahre alt.

 

Namenstafel der nach Riga Deportieren im Ghetto-Museum

von Riga - darunter auch Herbert Stern (Foto R. Janßen)

 

Gedenkstätte im Wald von Bikernieki, die der Volksbund

zusammen mit dem Deutschen Riga-Komitee errichtete

(Foto: R. Janßen)

Der Verfasser dieses Artikels war Teilnehmer an einer vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. veranstalteten Riga-Studienreise vom 9. bis 15.7.2016 mit dem Titel „Auf den Spuren der deportierten jüdischen Nachbarn – Erkundungen in und um Riga“ unter der Leitung des Historikers Matthias M. Ester. Die Suche nach Spuren von Herbert Stern war tatsächlich erfolgreich. Im Rigaer Ghetto-Museum, in der „Moskauer Vorstadt“ an der Grenze des ehemaligen Ghettos gelegen, sind alle Deportierten nach Riga namentlich aufgeführt. So unter den 1.001 am 15.12.1941 von Hannover nach Riga Deportierten auch Herbert Stern (siehe Foto).

Bei einem Gedenken an der Gräber- und Gedenkstätte im Wald von Bikernieki, die der Volksbund mit dem Deutschen Riga-Komitee errichtete, wurde auch an Herbert Stern aus Meinerzhagen erinnert.

Das Deutsche Riga-Komitee, dem sich auch 33 Städte aus Nordrhein-Westfalen angeschlossen haben, hat sich um die Erinnerung an die über 25.000 Männer, Frauen und Kinder, die in den Jahren 1941/42 aus Deutschland in das von deutschen Truppen besetzte Lettland deportiert wurden, allein, weil sie jüdischen Glaubens waren, sehr verdient gemacht. Deutschlandweit sind es aktuell 54 Mitgliedsstädte. So auch die Stadt Hannover. Diese hat ferner auf dem Opernplatz in Hannover ein Mahnmal für die ermordeten jüdischen Mitbürger errichtet. Dort sind die Namen in Stein gemeißelt. Hier finden wir auch Herbert Stern mit der Angabe 22 Jahre. Dies war sein Alter zum Zeitpunkt seiner Deportation am 15. Dezember 1941.

Es wäre nur angemessen, wenn auch in seiner Geburts- und Heimatstadt Meinerzhagen ein öffentliches Gedenken an ihn möglich wäre. Ebenso an seinen Vater Emil Stern und seinen Bruder Hans Stern, der als einziger jüdischer Mitbürger nach dem Krieg aus Shanghai kommend 1950 für kurze Zeit wieder in Meinerzhagen wohnte. Lediglich den Namen seiner Mutter Paula Stern, geborene Emanuel, geboren am 25.6.1884, finden wir auf der Bronzeplatte des Gedenksteins an der Kirchstraße 17.

Rolf Janßen gehört zur Initiative Stolpersteine Meinerzhagen

 

 Auszug aus der Namensliste der Deportation von Hannover nach Riga vom 15.12.1941

 

 Statistik der Deportation von Hannover nach Riga vom 15.12.1941

 

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