Noch rechtzeitig geflohen

nach Recherche von Ira Zezulak-Hölzer (Stadtarchiv Meinerzhagen)

Vor 75 Jahren, am 10. September 1938, floh die Familie Julius Fischbach aus der Derschlager Straße 11 in Meinerzhagen (heute Monis Grill)  nach New York/USA und rettete so das Leben aller vier Familienmitglieder.

Julius Fischbach wurde am 27. März 1892 in Meinerzhagen geboren. Er war das vierte Kind der Eheleute Jacob und Emma Fischbach, geborene Stern. Beide Elternteile waren gebürtige sehr angesehene Meinerzhagener Bürger. So war Vater Jacob Fischbach Mitglied des 1902 gegründeten und heute noch bestehenden Bürgerkegelclubs.

Nach dem Besuch der evangelischen Volksschule wurde Julius Fischbach Viehhändler wie sein Vater und auch sein jüngerer Bruder Oskar. Im Ersten Weltkrieg war Julius Fischbach Frontkämpfer, wurde  an der Ostfront verwundet  und geriet in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im August 1918 heimkehrte. Hierfür erhielt er das zum 20. Jahrestag des Kriegsbeginns 1914 vom damaligen Reichspräsidenten von Hindenburg gestiftete Ehrenkreuz für Frontkämpfer.

Julius Fischbach war Mitglied der Meinerzhagener Feuerwehr, der  Männergesangvereine „Liederkranz“ und „Germania“, der Ortsvereinigung ehemaliger Kriegsgefangener zu Meinerzhagen sowie Laienschauspieler der Freilichtbühne in der Grotmicke.

Er heiratete 1925 die am 18.03.1904 in Münder am Deister geborene Hedwig Windmüller. Die Eheleute bekamen zwei Kinder. Sohn Eugen wurde am 18.06.1926 in Meinerzhagen und Tochter Eva am 03.12.1929 ebenfalls in Meinerzhagen geboren.

Bis 1934 betrieben die Brüder Julius und Oskar Fischbach das Viehhandelsgeschäft gemeinsam. Ab 01.01.1935 führten sie ihre Betriebe getrennt, Oskar Fischbach in seinem von ihm neu erbauten Haus in der Lindenstraße 14 und Julius im elterlichen Haus in der Derschlager Straße 11.

Ihre damalige Situation beschreibt ein Bericht  der Amtsverwaltung Meinerzhagen an die Kreisverwaltung Altena vom 16.09.1955:

„Julius und Oskar Fischbach waren sehr fleißig. Sie lebten beide in geordneten und recht guten wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie betrieben ein sehr gut gehendes Viehhandelsgeschäft. Nachdem sie sich 1934 trennten, errichtete Oskar Fischbach ein eigenes Wohn- und Geschäftshaus in der Lindenstraße in Meinerzhagen. Nach der Machtübernahme litten beide Geschäfte unter dem allgemeinen Boykott jüdischer Geschäfte. Nach Verkündung der Nürnberger Gesetze verstärkte sich der Boykott derart, daß beide Geschäfte nicht mehr aufrecht zu erhalten waren. Die  damalige Politik ließ beide für ihr Leben und Eigentum fürchten, sodaß sie im Jahre 1938 nach Nordamerika auswanderten. Bei der hiesigen Amtskasse zählten beide zu den pünktlichsten und besten Steuerzahlern.“

Soweit der damalige Amtsoberinspektor und spätere Stadtdirektor Langemann.  

Der behördlich und auch umgangssprachlich gebräuchliche Begriff „Auswanderung“ erscheint in diesem Zusammenhang sehr zynisch.

Sowohl Julius wie auch Oskar Fischbach waren gezwungen, ihre Geschäfte im Januar 1937 aufzugeben. Für sie gab es keine Zukunft mehr in Deutschland. So planten beide Familien die Flucht in die USA. Oskar Fischbach floh mit seiner Familie bereits am 16.01.1938.

Was den beiden Brüdern gelang, war ihren 3 älteren Schwestern nicht vergönnt. Sie wurden jeweils mit ihren Ehemännern deportiert: Emilie Levy, geboren am 15.02.1888 in Meinerzhagen, am 31.03.1942 von Pohle bzw. Hannover ins Getto Warschau; Paula Grünewald, geboren am 25.03.1889 in Meinerzhagen, am 07.12.1941 von Köln ins Getto Riga; Else (Elise) Windmüller, geboren am 26.10.1890 in Meinerzhagen, am 02.03.1943 von Ahlem bzw. Hannover ins Vernichtungslager Auschwitz. Niemand kehrte zurück. Alle wurden ermordet.

Julius Fischbach verkaufte das von seinem Vater Jakob Fischbach nach dem Stadtbrand von 1894  wieder aufgebaute Haus in der Derschlager  Straße 11 und “verschleuderte“ die Wohnungseinrichtung zu einem Viertel ihres Wertes. So konnte er die Kosten der Flucht seiner Familie aufbringen.

Über die Situation der Kinder berichtet Eve Lee, geborene Eva Fischbach, in dem von ihrer Cousine Margot Fischbach-Bilinsky im Jahr 2002 produzierten Film „Das Medaillon – Jüdische Familien in Meinerzhagen“: „Mein Bruder rannte immer sehr schnell von der Schule nach Hause. Mein Bruder war 3 ½ Jahre älter als ich, und die anderen Jungen schlugen ihn auf dem Weg von der Schule nach Hause.

Mir war es nicht erlaubt, mit den anderen Kindern zu spielen. Sie spielten draußen und ich schaute durch das Fenster unseres Wohnzimmers, das einen sehr vornehmen Vorhang hatte, und schaute ihnen beim Spielen zu. Aber ich war Jüdin, und ihnen war nicht gestattet mit mir zu spielen.

Wie auch immer, ich hatte eine sehr gute Freundin, die auf der anderen Seite der Straße wohnte. Ihre Eltern setzten sich dafür ein, dass sie im Schutz der Dunkelheit zu mir kommen konnte. So kam sie immer am Abend und spielte mit mir. Eines Tages brachte sie mir eine Puppe. Ich wusste nicht, warum sie mir die Puppe brachte. Es war nicht mein Geburtstag. Aber ihre Mutter hatte ihr die Puppe gegeben, damit sie sie mir als Abschiedsgeschenk überreichen konnte, denn wir reisten am nächsten Morgen ab. Natürlich wussten das weder meine Freundin noch ich.

Später erfuhr ich, dass ihr Vater verhaftet worden war, weil jemand über ihn verbreitet hatte, dass er seiner 8-jährigen Tochter erlaubt hatte, ein jüdisches Mädchen zu besuchen und mit ihr zu spielen.“

Der beschriebene nächste Morgen war der 10.09.1938. Die vierköpfige Familie gelangte über Rotterdam nach New York, wo sie zunächst bei Hedwigs Bruder Walter Windmüller unterkam, der sicher behilflich bei der Erlangung der begehrten Einreisevisa war.

Die Flucht gelang zwei Monate vor der Reichsprogromnacht am 09.11.1938, die in Meinerzhagen erst am Morgen des 10.11.1938 stattfand. Damals wurden zunächst um 09.00 Uhr die fünf Familienväter Max Rosenthal,  Hauptstraße 15, Emil Stern, Hauptstraße 32, Julius Stern, Hauptstraße 6 (heute Zur Alten Post 8), Leo Stern, Kirchstraße 5 und Nathan Stern, Zum Alten Teich 2, von der örtlichen Polizei verhaftet und für einige Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen in „Schutzhaft“ genommen. Von diesen fünf gelang lediglich noch Nathan Stern mit seiner Frau Rosa 1940 die Flucht ins Ausland (Argentinien).  Über die  Reichsprogromnacht (bekannt als Reichskristallnacht) und die folgenden Ereignisse in Meinerzhagen wird im November ausführlich zu berichten sein, wenn sich dieses Ereignis zum fünfundsiebzigsten Male jährt.

Der Neuanfang in New York war für einen 46 Jahre alten Viehhändler aus dem Sauerland sicher nicht leicht. Entscheidender Rückhalt war ihm dabei der gleichfalls aus Meinerzhagen stammende Deutsch-Amerikaner Karl Potthoff. Dieser ermöglichte auch Nathan und Rosa Stern die Flucht nach Argentinien, als er deren Haus Zum Alten Teich 2 zu fairen Konditionen erwarb, vielen Meinerzhagenern noch als „Potthofs-Haus“ in Erinnerung.

Julius Fischbach hat seine Heimat nicht wiedergesehen. Er scheute davor bis zuletzt zurück. Dennoch blieb der Meinerzhagener seiner Heimatstadt als Leser der Meinerzhagener Zeitung in der Erinnerung   verbunden. Er verstarb 1980 im Alter von 87 Jahren und seine Frau Hedwig kurz nach der Vollendung ihres 96. Lebensjahres im Jahr 2000. Sohn Eugen war bereits im Alter von 49 Jahren 1976 früh verstorben. Tochter Eva  besuchte 1999 ihre Geburtsstadt. Weitere Familien-mitglieder der nachfolgenden Generationen besuchten 2000, 2010 und 2012 die Heimat ihrer Vorfahren.

Eva Fischbach (Jahrgang 1929) und ihre Cousine Margot Fischbach (Jahrgang 1933) sind die letzten noch lebenden Meinerzhagener Opfer des Nationalsozialismus, an die durch Stolpersteine erinnert werden soll. Die Initiative Stolpersteine Meinerzhagen würde dies gerne zu deren Lebzeiten für sie und ihre Familien  bei der nächsten Stolperstein-verlegung verwirklichen. Dazu bedarf es allerdings noch der Zustimmung der heutigen Anlieger, damit dies auf städtischem Grund- und Boden möglich wird.

 

Der Autor dieses Beitrages.
Rolf Janßen, ist Mitglied der Initiative
Stolpersteine Meinerzhagen

 

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