Ansprache zur Stolpersteinverlegung in Kierspe am 6. Juli 2017

Marion Görnig für die Initiative Stolpersteine

 

Unter einer großen schattenspendenden Eiche in einem kleinen Ort in Schweden ist Kurt Tucholsky begraben. Er starb 1935 an einer Überdosis Veronal. Ein Tod im Exil, denn Deutschland hatte ihn, den jüdischen Dichter und Journalisten ausgebürgert, ihm seinen Pass und damit Identität und Heimatland entzogen.

„Ein kleiner dicker Berliner, der versuchte, mit einer Schreibmaschine eine Katastrophe aufzuhalten“, hat Erich Kästner Tucholsky einmal beschrieben. In seinen tiefsinnigen und scharfzüngigen Feuilletons kritisierte er in den Zwanziger Jahren ein Deutschland, das von den alten preußischen Tugenden auch nach dem großen Krieg nicht lassen mochte. Ein Deutschland, dem die Demokratie fremd blieb, das seinen Kaiser wiederhaben wollte und einen Hitler bekam.

Tucholsky schrieb furchtlos gegen die heraufziehende Gefahr an, warnte vergebens vor dem Absturz Deutschlands in die Barbarei. Wenn wir dich kriegen, Tucholsky, drohte Goebbels schon lange vor der Machtergreifung. Die Nazis duldeten keinen Stachel im Fleisch, schon gar nicht einen jüdischen, und verbrannten 1933 seine Bücher. Als Staatenloser blieb er ein Fremder in seiner letzten Zuflucht Schweden. Denn ohne sein Land, das er so scharf kritisierte, mochte er auch nicht leben. Seine Freunde haben ihn schließlich dort begraben, wo seine letzte Liebesgeschichte „Schloss Gripsholm“ spielt, in Mariefred am Mälarsee.

Warum denke ich heute und an dieser Stelle an Kurt Tucholsky? Wo ist die Verbindung zwischen seinem Grab und den drei Stolpersteinen, die heute in Kierspe verlegt werden zum Gedenken an Erich Heß, seine Mutter Bertha Rachel und ihren Mann Heinrich Rachel?

Grabsteine sind Gedenken, ein Grab ist der Ort, der das Vergängliche verbindet mit dem Irdischen und - so ist zu hoffen - dem Ewigen.

Tucholskys Grab ist, wie ein kleines in die Erde gestecktes Schild es ausweist, ein „Deutsches Kulturgrab“. Der Botschafter in Schweden bringt zu Gedenktagen einen Kranz, Touristen, die im Sommer mit dem Dampfer aus Stockholm den Weg finden in das beschauliche Städtchen, bringen dem Dichter oft Blumen.

Wir alle wissen um unser historisches Erbe. Daran gibt es nichts zu deuteln und nichts zu verbergen und nichts zu verdrängen. Und es gibt nichts zu vergessen. Sechs Millionen Menschen wurden in den deutschen Vernichtungslagern ermordet. Sie dürfen nicht vergessen werden, um ihrer selbst willen, weil wir uns erinnern müssen, dass sie Nachbarn gewesen sind in unserer Stadt, Mitbürger, Mitmenschen. Eine, einer von uns. Mit einem Namen und einem Heim, vielleicht gleich nebenan.

Erich Heß musste am 28. April 1942 hier in Kierspe, am Bahnhof unten, den Zug nach Dortmund besteigen. Man hat einen gesonderten Wagen angehängt, in dem sich bereits acht Meinerzhagener Deportierte befinden. Vom Sammellager in einer Dortmunder Turnhalle fährt er zusammen mit 790 Menschen aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in den Tod. Ziel des Zuges der Reichsbahn ist das Ghetto von Zamosc im damaligen deutschen Generalgouvernment, das sie am 3. Mai nach 65stündiger Fahrt erreichen. Doch Zamosc ist nur eine Durchgangsstation. Von dort werden sie in die Mordmaschinierie der nahegelegenen Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Majdanek weitertransportiert.

Niemand kehrte zurück, sie alle wurden ermordet. Eric Heß war damals 23 Jahre alt. Er hat kein Grab.

Auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee ist Tucholskys Vater Alex begraben. Neben seinem Grabstein steht ein Grabstein für Doris Tucholsky, seine Mutter, aber das Grab ist leer. Sie wurde Anfang Mai 1943, 74jährig, als Angehörige eines sog. „Alterstransportes“ nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Heute wird ein Stolperstein für Erich Heß verlegt. Damit bekommt er, der in den Mordbüchern nur eine Nummer war, seinen Namen zurück. Damit geben wir ihm einen Gedenkstein. Ein Stolperstein ist aber auch ein Mahnmal, das uns heute an jeden Einzelnen aus der Mitte unserer Städte und Gemeinden, aus seinem Heim Vertriebenen, Gerissenen, erinnern soll. Eine Erinnerung, eine Mahnung an uns alle, so etwas nie wieder geschehen zu lassen. Nie wieder wegzuschauen, nie wieder zu schweigen und nie wieder dem Hass und dem Unrecht zu gehorchen.

Bertha Rachel, Erichs Mutter, stirbt, so weist es das Sterberegister aus, an einer „Blutvergiftung“. Auf Kurt Tucholskys Totenschein stand 1935 „Veronalvergiftung“. Das Wort Gift drängt sich ins Gedächtnis, letztendlich bleibt es nicht wichtig, ob es sich um eine willentlich planvolle Flucht in den Tod handelt. In einem übertragenen Sinn ist es das Gift der nationalsozialistischen Rassendoktrin - welch ein scharfes, gewalttätiges Wort – das beide umbringt, es zersetzt ihren Lebensmut, zerstört ihre Seele durch Angst und Hoffnungslosigkeit. Bertha Rachel treibt die Angst um ihren Sohn und vor der eigenen Deportation in den Tod, Kurt Tucholsky zuletzt die Überzeugung, dass er mit all seinem Schreiben, den vielen warnenden Worten das Unheil nicht hat aufhalten können.

Heinrich Rachel, Berthas Ehemann, hat großen Mut und Tapferkeit bewiesen. Er hat sich von seiner jüdischen Frau nicht scheiden lassen, als sie das von ihm verlangten, und als ihr die örtlichen Behörden ein Grab verweigern, da schafft er ihr eins in einem bemerkenswerten mutigen Akt. Auch an Bertha Rachel erinnert seitdem nichts, der neue jüdische Friedhof in Meinerzhagen, auf dem Heinrich sie schließlich mit Hilfe zweier Nachbarn begraben darf, ist 1943 bereits zerstört und geschändet, ihre genaue Bestattungsstelle bleibt unbekannt.

Bertha Rachel bekommt heute einen Stolperstein mit ihrem Namen. Er erinnert uns, wie alle Stolpersteine an den Ort, an dem sie gelebt hat.

Heinrich Rachel ist ein Überlebender, aber er ist auch ein Opfer. Weil er zu seiner jüdischen Frau steht, zerstören die örtlichen Behörden seine Existenzgrundlage, sein Geschäft, um ihn zu brechen, er wird zur Zwangsarbeit „dienstverpflichtet“, wie es so grausam beschönigend heißt. Verzweifelt muss er miterleben, wie seine Frau und sein Stiefsohn den gelben Judenstern tragen müssen, wie Erich schließlich den Koffer packen muss mit dem so zynisch erlaubten Notwendigsten für den angeblichen „Arbeitseinsatz“, er schließlich ein letztes Mal in Kierspe gesehen wird, am Bahnhof, und in den Zug steigt, der kurz zuvor in Meinerzhagen gehalten hat. Hilflos erlebt Heinrich Rachel, wie seine Frau vor Verzweiflung und Angst das Essen einstellt, nicht mehr leben will, weil man sie und ihren Sohn nicht leben lässt.

In seinem Schicksal finden wir dann letztendlich ein Element der Hoffnung, die auch das große Kunstwerk Günter Demnigs, die Stolpersteine, die heute in fast ganz Europa uns gemahnen, trägt. So wie es das Verbrechen im Großen gegeben hat, hat es auch die einzelne mutige, solidarische Tat gegeben. Heinrichs Nachbarn Heukelbach und Koch helfen ihm, seine Frau auf dem neuen jüdischen Friedhof an der Heerstraße in Meinerzhagen zu beerdigen. Nach dem Ende der Nazidiktatur gibt es in Kierspe eine Ortsgruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die ihn unterstützt bei seinem jahrelangen Bemühen um Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus. Und es gibt heute Menschen, die das Schicksal dieser drei Menschen erst wieder bewusst gemacht haben, die nach ihnen gesucht haben, damit wir sie nicht vergessen können. Rolf Janßen von der Initiative Stolpersteine, Ira Zezulak-Hölzer und Hermann Reyher.

Kurt Tucholskys erste Frau, die jüdische Ärztin Else Weil, ist 1942 in Auschwitz ermordet worden. Auch für sie wurde am 27. August 2014 in Berlin-Friedenau in der Bundesallee 79 ein Stolperstein verlegt. Und sie hat ein literarisches Denkmal, sie ist die Claire in Tucholskys Roman „Rheinsberg“. Seine zweite Frau Mary Gerold hat die Nazizeit überlebt. Sie hat bis in ihr hohes Alter sein literarisches Erbe gesammelt und wieder hergestellt.

Auf der Grabplatte Kurt Tucholsky stehen Zeilen aus Goethes Faust: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.

Kurt Tucholsky ist in Mariefred begraben und manchmal, wenn der Dampfer aus Stockholm anlegt, bringen Touristen aus Deutschland ihm Blumen zum Gedenken. Ich tue das auch jeden Sommer und ich werde das in Zukunft auch in Kierspe an den Stolpersteinen tun. Ich bin sicher, ich bleibe nicht die einzige.

Ich bin unendlich stolz darauf, dass wir in Kierspe dieser drei Menschen heute durch die Stolpersteine für sie so gedenken können, wie es richtig und wichtig ist. Für die Vergangenheit, an die wir uns immer erinnern müssen und die Zukunft, die wir nur gut und menschlich gestalten können, wenn wir uns ihrer bewusst sind.

 

 

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